Viele lokalen Historiker und Schriftsteller haben sich mit der SACRA SPINA (heiliger Dorn) befasst. Einer von ihnen, vielleicht der bekannteste, ist Mons. Emanuele Merra, der die Geschichte Andrias sehr eingehend studierte. „Was die Herkunft einer der größten Dornen betrifft, die im Dom von Andria aufbewahrt wird", schreibt Merra, "bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass es sich dabei nicht um ein Geschenk Karls von Anjou handelt, sondern dessen Sohnes, Karl II.”. Die Anjous machten diese Schenkungen für gewöhnlich den wichtigsten Städten, in denen sie wohnten oder sich häufig aufhielten, als Zeichen der Verbundenheit mit dem französischen Königshaus. Die ersten belegten Zeugnisse von einem Wunder der SACRA SPINA (des heiligen Dorns) gehen auf das Jahr 1633 zurück, aber man nimmt an, dass diese auch bereits früher geschahen. Mons. Merra schreibt: „Die Sacra Spina von Andria ist vier Finger lang und an ihrem Ansatz dick wie eine Kordel. Ihre Farbe ist aschgrau, nur gegen die angebrochene Spitze hin wird sie dunkel. Auf der Hinterseite des gekrümmten Teils sind vier violette Flecken gut sichtbar, dazu einer auf der Vorderseite sowie mehrere kaum sichtbare kleinere Punkte. In den Jahren, in denen der 25. März, Tag der Verkün-digung Marias mit dem Karfreitag zusammenfällt, werden diese Flecken hellrot, wie frisches Blut. Darin besteht das Wunder." Von diesem Wundergeschehen gibt es im Verlauf der Zeit zahlreiche Zeugnisse. Besonders belegt sind jene Wunder, die sich 1910, 1921 und 1932 zutrugen. Das letzte dieser Ereignisse geht auf den 25. März 2005 zurück, das der Bischof von Andria, Raffaele Calabro folgendermaßen kommentiert: „In mir ist das bewegende Gefühl immer noch le-bendig, das ich empfand [...] Bewusst möchte ich dafür den Ausdruck „außergewöhnliches Zeichen" verwenden, aus dem Evangelium des Johannes, der besser als die beiden verbreiteten Begriffe „Wunder" und „Mirakel" Ereignisse definiert, die alleine mit der Vernunft nicht zu erklären sind und nur durch den Glauben erfasst werden können. Eine Tatsache zur Kenntnis zu nehmen, die menschlich gesehen unerklärlich ist, sowohl anhand der Beobachtungen als auch unter Einsatz aller technischen Mittel, die uns heute die Wissenschaft zur Verfügung stellt, betrifft sowohl Gläubige als auch nicht Gläu-bige. Die SACRA SPINA wird in der Kathedrale von Andia aufbewahrt, wo sie zu besichtigen ist.
Eine der Traditionen der Fastenzeit in Andria, die aber leider bereits verschwunden ist, war das Aufhängen von Strohpuppen an einem Seil zwischen zwei Häusern. Es wurden so viele Puppen aufgehängt, wie die Fastenzeit zwischen Aschermittwoch und Ostern Wochen hat. Jede Woche wurde eine der Strohpuppen verbrannt, um damit die Zeit bis zum Ende der Fastenzeit und dem Beginn des Osterfestes abzuzählen.
Gründonnerstag
Di “Sepolcri” (Altäre der Aussetzung des Allerheiligsten Sakraments) wurden einst mit jungen Getreide-, Gersten- oder Linsen-Halmen geschmückt, deren Samen von unseren Vorfahren in der Mitte der Fastenzeit in dunklen Räumen zum Keimen gebracht wurden. Durch das fehlende Sonnenlicht entwickelten die Pflanzen keinen grünen Farbstoff und nahmen eine gelbliche Farbe an. Heute werden die “Sepolcri” mit bunten Blumen geschmückt.
Auch heutzutage gibt es nach den Gottesdiensten in den Kirchen noch ein Kommen und Gehen der Gläubigen, die von einer Kirche zur anderen ziehen, um die “Sepolcri” zu besuchen. Dies war bis vor wenigen Jahrzehnten noch die Gelegenheit, mit neuen Kleider Staat zu machen, vor allem für junge Verlobte, die für den Kirchenbesuch von ihrer zukünftigen Schwiegermutter und einer Gruppe Verwandter von zu Hause abgeholt und wieder zurückgebracht wurden. Es war Brauch, mindestens sieben “Sepolcri” zu besuchen, einschließlich der Kirche des Purgatoriums, wo sich die Holzstatuen der Passion und des Todes Christi befinden, die bei der Karfreitagsprozession mitgetragen wurden und heute noch werden. Charakteristisch war auch das unaufhörliche Dröhnen der Trommeln vor der Kirche. Ein weiterer heute verschwundener Brauch war, dass die Gläubigen für jeden besuchten “Sepolcro” eine der Zuckermandeln (Confetto) aßen, die sie während der Faschingszeit dafür aufgespart hatten.
Karfreitag
Nach dem Gedenken an den Tod Jesu beginnen die Vorbereitungen für die “Prozession der Mysterien”, die in den Abendstunden durch die Stadt zieht. Nach alter Tradition wird die Prozession auch heute noch von vielen schweren Holzkreuzen eröffnet, die einst von Gläubigen und heute von den sogenannten “Crociferi” (Kreuzträgern) der gleichnamigen Gemeinschaft auf den Schultern getragen werden.
Es folgen die Statuen: Christus am Ölberg, Christus an der Säule, Christus mit dem Schilfrohr, Christus, der unter dem Kreuz stürzt, die Madonna Addolorata (Schmerzensmutter), der Gekreuzigte Christus, der tote Christus, die Statuengruppe der Frommen Frauen und schließlich die wundertätige Reliquie der „Sacra Spina (Hl. Dorn)“. In früheren Zeiten gab es die Statuengruppe der Frommen Frauen noch nicht, sie wurde erst in jüngerer Zeit gefertigt. Stattdessen gab es eine Reliquie vom Heiligen Kreuz, die in einem Schrein aufbewahrt wurde.
Karsamstag
Bis vor einigen Jahrzehnten war dies der Tag der Auferstehung. Zu Mittag, wenn in der päpstlichen Messe das “Gloria in excelsis Deo” gebetet wurde, ertönten wieder die Kirchenglocken (die während der Fastenzeit geschwiegen hatten) und kündigten von der Auferstehung Christi. Das Getöse der Glocken wurde vom Krachen des Feuerwerks noch verstärkt. Die ganze Stadt feierte, es war Brauch, dass die Leute mit Holzstöcken Lärm erzeugten, um den Teufel “u paponnë” unter dem Bett hervor und aus dem Haus zu treiben.
Es begann ein Getümmel auf den Straßen, junge Männer trugen Lämmer mit roten Maschen um den Hals, Körbe voller Eier, Zuckerschäfchen, Festtagskuchen, verziert mit Glasur und Schokoladeeiern (le scarcelle “rë scarcidd”), um mit den Familien ihrer Verlobten Geschenke auszutauschen. Es war Brauch, dem Verlobten ein Hemd und eine Krawatte zu schenken, begleitet von einem Geschenk aus Gold.
Ostersonntag
Die Tradition sah vor, dass das Osteressen mit hartgekochten Eiern (ist auch heute noch üblich), “Soppressata”-Scheiben (spezielle Rohschinkenart) begann, gefolgt von anderen Speisen: Nudelauflauf, gebratenes Lamm und vieles andere, begleitet von einem guten Wein.
Am Nachmittag des Ostersonntags begaben sich die Schwiegereltern mit ihren nächsten Verwandten und dem Bräutigam zum Haus der Verlobten, um ihr das “u chngirt”, also eine Halskette, Ohrringe und Armband aus Gold zu bringen. Diese bot ihnen dafür von ihrer Mutter gefärbte Eier oder “rë scarcidd” oder ein Stück “calzaunë”, also Zwiebelkuchen mit Oliven und Sardellen an.
Ostermontag
An diesem Tag gab es zwei Bräuche: Die Bewohner Andrias bereiteten ein reichliches Mahl bestehend aus “u calzaunë dë cambrë” (Focaccia mit Ricotta-Eier-Fülle und anderen Zutaten), einer Gemüsesuppe oder gekochten Karden mit Ei und Käse überbacken. Viele hingegen fuhren am frühen Morgen mit Karren und Kutschen aus der Stadt hinaus zum Wallfahrtsort Calentano bei Ruvo. Am Nachmittag begann bei der Kirche dell’Annunziata die Engelsprozession mit vielen Kindern, die entweder als Engel mit weißen Gewändern oder als Hl. Johannes mit Hosen und einem Lammfell über den nackten Schultern verkleidet waren.
BIBLIOGRAFIE: Antonia Musaico Guglielmi – “passato e presente nelle tradizioni andriesi”
Tip. Guglielmi .- Andria September 1988
Vincenzo Quagliarella – “Per non dimenticare come eravamo”
Grafiche Guglielmi s.n.c. – Andria 1995