Die Karwoche leitet das höchste Fest des Kirchenjahres ein und wird in allen Städten und Ortschaften Apuliens mit großen Feierlichkeiten begangen. Ihren Höhepunkt erreichen die religiösen Festlichkeiten, was die Veranstaltungen im Freien betrifft, am Karfreitag mit den Kreuzwegprozessionen, aber auch am vorangehenden Palmsonntag, der einstmals Passions- oder Schmerzenssonntag genannt wurde, mit den Prozessionen der Schmerzensmutter (Madonna Addolorata) oder der Untröstlichen Mutter (Madonna Desolata).
In Apulien zeichnet sich die Karwoche durch die Aktivitäten der Laienbruderschaften aus, sowohl was die Ausrichtung der religiösen Riten betrifft, als auch durch ihre Teilnahme. Die apulische Laienbruderschaftsbewegung ist wirklich beeindruckend.
Nach Angaben des Verbands der Laienbruderschaften der Diözesen Italiens für das Jahr 2012 gibt es neunhundertelf eingetragene Bruderschaften mit insgesamt zweihundertfünfzigtausend Mitgliedern. Zu diesen zählen auch sehr große Bruderschaften mit tausend und mehr Mitgliedern, wie die Erzbruderschaften „del Carmine“ und „dell´Addolorata“ in Tarent und die Erzbruderschaft „della Morte“ in Molfetta, in der Provinz Bari. Fast immer stehen die großen Bruderschaften mit der Karwoche in Zusammenhang und man kann sagen, dass es in den größeren Städten kaum eine Familie gibt, in der nicht wenigstens ein Mitglied einer Laienbruderschaft angehört. Daran kann man erkennen, wie tief verwurzelt die Ostertraditionen bei der apulischen Bevölkerung sind.
Jene Laienbruderschaften, die die Riten der Karwoche ausrichten sind unter anderem auch die ältesten. Einige wurden bereits in der Mitte des 13. Jahrhunderts gegründet, also noch weit vor der Gegenreform und dem nachfolgenden Konzil von Trient, das zwischen 1545 und 1563 abgehalten wurde und unter anderem die Riten der Karwoche regelte, wobei die „Heiligen Darstellungen“ verboten wurden.
Diese Veranstaltungen waren Ausdruck völkischer Frömmigkeit und bestanden aus Theateraufführungen, in denen lebende Bilder aus den Evangelien, vor allem der Passion Christi, nachgestellt wurden.
Diese „Vorstellungen“ fanden für gewöhnlich auf den Kirchplätzen statt und wurden „Mysterien” genannt. Die „Heiligen Darstellungen” wurden durch Prozessionen ersetzt, die von den Laienbruderschaften organisiert wurden und bei denen die „Mysterien” nicht mehr von Personen, sondern von den Statuen des Jesus, der Schmerzensmutter und anderer Gestalten aus der Passion Christi dargestellt wurden. Dies geschah vor allem in Süditalien und die heutigen Tätigkeiten der apulischen Laienbruderschaften während der Karwoche stellen sozusagen die Fortsetzung dieser alten Traditionen dar.
Viele Laienbruderschaften tragen Erkennungsmerkmale und erfüllen Aufgaben, die ihrem Namen oder ihrer Bezeichnung entsprechen. Es ist offensichtlich, dass zum Beispiel die Bruderschaften mit den Bezeichnungen „della Morte“ (des Todes) (Cerignola, Molfetta, Oria, San Nicandro Garganico, San Severo), und „del Suffragio“ (der Fürbitte) (Bitonto, Ruvo di Puglia) die Prozessionen vor dem Osterfest ausrichten oder die Bruderschaften der Madonna del Carmine die Prozessionen der „Mysterien” in Tarent organisieren.
Sehr verbreitet sind auch die Laienbruderschaften, die sich der Madonna Addolorata (Schmerzensmutter) geweiht haben (Andria, Bisceglie, Carbonara di Bari, Cerignola, Taranto, Trani, Valenzano).
Es gibt auch einige Gegenstände, die eine geografische Unterscheidung der Laienbruderschaften darstellen: Ein Beispiel dafür ist die „Troccola”, die bei den Laienbruderschaften der Provinz Tarent gebräuchlich ist, jedoch in der Provinz Bari kaum verwendet wird.
Wer jedoch denkt, dass sich die Aufgaben der Laienbruderschaften darin erschöpfen, die Volkstraditionen fortzusetzen, die zwar schön anzusehen, aber bar einer tieferen christlichen Bedeutung sind, der irrt. Die Mitglieder der Laienbruderschaften befassen sich nicht nur mit der Ausrichtung von Kirchenfesten oder der Wahrung lokaler Traditionen. Bei einigen von ihnen, wie zum Beispiel der Erzbruderschaft Santo Stefano in Molfetta, die über die Organisation „Bontà di S. Stefano” Arme und Bedürftige betreut, sind Werke der Barmherzigkeit in den Statuten verankert.
Andere wiederum, wie die Laienbruderschaft der Addolorata in Tarent widmen sich neben der menschlichen Betreuung auch der Wohltätigkeit und gemeinnützigen Aktivitäten mit individueller Förderung. Jedes Jahr verleiht diese Bruderschaft einer tarentinischen Frau, die sich durch besondere Nächstenliebe ausgezeichnet hat, den Preis „Cuore di Donna”.
Dieses Jahr findet diese Preisverleihung bereits zum achtzehnten Mal statt. Die apulischen Laienbruderschaften verrichten seit Jahren wertvolle Tätigkeiten in den verschiedenen Diözesen und engagieren sich in den Pfarreien, je nach ihren finanziellen Möglichkeiten, bei der Unterstützung der Armen und der Lehre der Heiligen Schrift.
Aus diesen Gründen kann man wohl sagen, dass die Karwoche in Apulien kein Osterspektakel, sondern Ausdruck tief empfundener Volksfrömmigkeit und authentischer Glaubensbezeugung ist und dadurch zur Garantie für zeitliche Kontinuität und zu einem Instrument der Verbreitung der christlichen Botschaft wird.
by Francesco Stanzione